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Nicht geschimpft ist Lob genug!

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Zugezogenen fallen manchmal regionale Muster ihrer neuen Heimat auf, die den Einheimischen gar nicht bewusst sind. Zum Beispiel die Urban Legends, auf die man immer wieder trifft – auf Partys, beim Schwatz mit den Nachbarn, beim Small Talk mit dem Kunden. Ein Beispiel: Im Großraum Südwestfalen lerne ich oft Menschen kennen, die während ihrer Ausbildung vor 20 oder 30 Jahren einen bestimmten Typ Chef hatten – oder damals garantiert jemanden kannten, der unter diesem Unternehmer arbeitete. Oder zumindest seinen Cousin oder dessen Nachbarn.

Die Legende geht so: Der besonders strenge Unternehmer/Abteilungsleiter/Ausbilder (die Funktion des Protagonisten wechselt von Version zu Version) geht über das Werksgelände (je nach Erzähler auch mal durch das Großraumbüro) und sieht jemanden untätig herumstehen. Wutentbrannt stellt er ihn vor versammelter Belegschaft zur Rede, wieso er die Hände in den Taschen halte, statt sich nützlich zu machen. Der Angesprochene reagiert gelassen: Nun ja, er warte grad. Der erzürnte Chef explodiert – bei ihm werde während der Arbeitszeit geschafft und nicht gestanden; er solle auf der Stelle seine Sachen packen und verschwinden. Sein Gegenüber bleibt weiterhin die Ruhe selbst: Er könne schlecht gefeuert werden, denn er arbeite gar nicht für diese Firma, sondern sei lediglich ein Lieferant. Der legendäre Südwestfale in Rage brüllt: „Na und? Ich schmeiße Sie trotzdem raus!“

Als Zugezogene fallen einem zwar die Muster solcher sich wiederholender Erzählungen auf, allein, es fällt schwer, Hintergründe der Geschichten korrekt zu bestimmen. Man beginnt aber unwillkürlich, eigene Beobachtungen anzustellen. Wie schroff und streng ist der Südwestfale wirklich? Ich war stets fast enttäuscht, dass ich sowohl beruflich als auch privat Tag für Tag auf freundliche, wohlgesonnene Menschen treffe; für mein Forschungsprojekt war das gar nicht hilfreich. Wie sollte ich schroffe Strenge messen, wenn ich sie nicht vorfinde? Fragte ich mich just wieder an einem Nachmittag, an dem ich jacken- und taschenlos mein Büro in einer südwestfälischen Innenstadt verlassen hatte, um ein paar Minuten lang erste Sonnenstrahlen des beginnenden Frühlings zu genießen. In diesem Moment sprach mich eine ärmlich gekleidete Frau an, die offenkundig auf der Straße lebte, ob ich vielleicht etwas Geld für sie habe. Ein Portemonnaie trug ich nicht bei mir, hatte aber zufällig wenigstens ein paar kleine Münzen in der Hosentasche, die zusammen etwa 40 Cent ergaben. Die legte ich ihr in die ausgestreckte Hand. Was ich dafür erntete, war ein vorwurfsvoller Blick. Die Hand wurde auch noch nicht zurückgezogen. „Nee“, erklärte sie, ihre Ungeduld mühsam zurückhaltend. „Nee! Einen Euro!“ Legte den Kopf schief und sah mich an wie ein ungezogenes Kind. Ich war entsprechend schuldbewusst. Kurz davor, ihr anzubieten, schnell ins Büro zurücklaufen und den Fehlbetrag zu holen, entfernte sie sich bereits kopfschüttelnd. Ohne mir die Chance zu geben, meinen Fehler wiedergutzumachen.

„Oha“, dachte ich, „so fühlt sich also südwestfälischer Tadel an.“ Ich weiß nach dieser Erfahrung, wie ich künftig reagiere, wenn man mir wieder erklärt: „Nicht geschimpft ist Lob genug – so sind wir hier in Südwestfalen!“ Verständnisvoll natürlich. Ich kann ja endlich mitreden.

Veröffentlicht im SÜDWESTFALEN MANAGER (Ausgabe Februar 2011) unter der Rubrik „Parallelwelten“.


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